Der Body-Mass-Index wird schwer überschätzt

Datum 01.09.2017 09:49 | Thema: Themen und Texte

Über zwei Millionen Menschen in der Schweiz sind übergewichtig – wenn man sich auf den so genannten BMI abstützt. Eine grosse wissenschaftliche Studie aus den USA äussert nun massiv Kritik: Viele Übergewichtige seien topfit. Der BMI sei plump. Und es sei Zeit, diesen Massstab zu beerdigen.
Der Body-Mass-Index wird schwer überschätzt
Originalquelle:
 
https://www.bluewin.ch/de/leben/lifestyle/redaktion/2016/16-02/body-mass-index-wird-schwer-ueberschaezt.html
 
Jeder Mensch ist anders gebaut. Dennoch wird häufig der Body-Mass-Index (BMI) verwendet, um zu zeigen, wie gesund man ist. Der BMI ist ein grober Richtwert, der das Gewicht im Verhältnis zur Körpergrösse berechnet.


Über zwei Millionen Menschen in der Schweiz sind übergewichtig – wenn man sich auf den so genannten BMI abstützt. Eine grosse wissenschaftliche Studie aus den USA äussert nun massiv Kritik: Viele Übergewichtige seien topfit. Der BMI sei plump. Und es sei Zeit, diesen Massstab zu beerdigen.
 
Übergewicht gleich ungesund: Das gilt fast schon als Binsenwahrheit. Und zu unserem Alltagswissen gehört auch, wie sich dieses Übergewicht ausdrückt – im «Body Mass Index», kurz BMI. Man teilt seine Kilo durch die Körpergrösse im Quadrat oder steuert einfach einen BMI-Rechner im Internet an. Und mit einem einzigen Blick ahnt man, ob man schwergewichtig riskant lebt. Wie er genau funktioniert, erfahren Sie in unserer Bildergalerie.
 
Eine grosse Untersuchung der University of California meldet nun Widerspruch an – und zwar laut. Ihre Aussage: Der Zusammenhang zwischen Übergewicht und schlechter Gesundheit sei viel zu dünn belegt. «Wir denken, dass der BMI ein wirklich derber und schrecklicher Indikator für die Gesundheit von jemandem ist», sagte die Leiterin der Studie, A. Janet Tomiyama, in der «Los Angeles Times»: «a really crude and terrible indicator».
 
Wenn gesund essen zum Zwang wird
Wie das? Das Forscherteam des Dieting, Stress and Health Laboratory der UCLA stellte sich schlicht und einfach die Frage, wie sich der BMI zu einer ganzen Reihe von wichtigen Gesundheits-Werten des Menschen verhält – etwa Blutdruck, Cholesterin, Triglycerid-Werte, C-reaktives Protein, Insulinresistenz… Das sind Daten, die viel aussagen über den Kreislauf und den Stoffwechsel einer Person; also von Körperfunktionen, die nach allgemeinem Verständnis vom Übergewicht besonders belastet werden.
 
Guter BMI bedeutet nicht, dass man gesund ist
Ausgewertet wurden die Daten von über 40'000 Personen. Am Ende hatten etwa die Hälfte der laut BMI-Logik übergewichtigen Personen Gesundheits-Werte im grünen Bereich. Auch 29 Prozent der adipösen, also verstärkt fettleibigen Menschen wiesen insgesamt gute Werte auf – und selbst 16 Prozent der Schwergewichte mit einem BMI über 35.
 
Auf der anderen Seite stellten die Statistiker bei über 30 Prozent der normalgewichtigen Personen ungesunde Kreislauf- und Stoffwechsel-Zustände fest.
Mit anderen Worten: Viele Übergewichtige könnten eigentlich entspannt das Leben geniessen – während ein schöner Teil der so genannt Normal- oder Idealgewichtigen vielleicht besser aufpassen müsste. 
 
«Das Resultat dieser Studie ist nicht wirklich überraschend und deckt sich zu weiten Teilen mit unseren eigenen Intentionen.»
Heinrich von Grünigen, Präsident Schweizerische Adipositas-Stiftung SAPS
Allerdings ist dies noch lange keine Entwarnung. Sieht man genau hin, so besagen die Daten des Psychologen-, Diätologen- und Statistiker-Teams aus Kalifornien ja doch auch, dass Übergewichtige mit knapp 1,5-facher Wahrscheinlichkeit schlechtere sonstige Werte haben als Normalgewichtige. Und erst letzten Oktober wiesen britische Wissenschaftler zum Beispiel nach, dass ein Zusammenhang zwischen BMI und Darmkrebs bestehen muss. 
 
«Das sollte der letzte Sargnagel für den BMI sein».
Dennoch meinte die Studienleiterin Janet Tomiyama nach den jüngsten Ergebnissen: «Das sollte der letzte Sargnagel für den BMI sein». Denn die Forschungsarbeit, die jetzt im «International Journal of Obesity» veröffentlicht wurde, steht nicht alleine. In den letzten Jahren wurden allerhand Zweifel an der Aussagekraft des BMI angemeldet. Gleich mehrere wissenschaftliche Untersuchungen ergaben zum Beispiel, dass sogenannt übergewichtige Personen mit einem BMI zwischen 30 und 35 keineswegs ein höheres Sterberisiko hatten als idealgewichtige Menschen (etwa hier und hier).
 
Und in der Schweiz errechnete der Biologe Christian Bachmann, dass der alte BMI etwa jeden dritten Menschen falsch beurteilen dürfte: «Alter und Geschlecht sind die entscheidenden Punkte, die in die Kalkulation einfliessen müssen», sagt Bachmann: «Ohne diese Faktoren halte ich den BMI tatsächlich für ziemlich wertlos.» So entwickelte der Biologe vor zwei Jahren selber einen Index, den «Smart BMI» , der die Sache subtiler angeht: Er berücksichtigt auch, dass das Normalgewicht zum Beispiel mit höherem Alter etwas steigt. Oder dass es zwischen Mann und Frau auch da gewisse Unterschiede gibt.
 
Wird Übergewicht überbewertet?
Was gilt jetzt also? Womöglich ist der BMI allzu sehr zu einem gesellschaftspolitischen Massstab geworden. Derweil häufen sich auf der anderen Seite die Hinweise, dass dieser Massstab medizinisch viel weniger taugt als angenommen. Was zusammengefasst bedeuten würde: Übergewicht wird gesundheitspolitisch überbewertet.
Wir hören ständig Warnungen vor einer «Fett-Pandemie», und selbst laut offiziellen Daten gelten etwa 2,5 Millionen Menschen in der Schweiz als übergewichtig – schon das Wort «übergewichtig» besagt ja, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Aber medizinisch scheint die Sache alles andere als klar.
«Jeder Fall von Adipositas und Übergewicht ist immer individuell zu betrachten, auf der Basis einer spezifischen Anamnese und – im Falle einer ausgeprägten Adipositas – einer medizinischen Stoffwechsel-Analyse.»
Heinrich von Grünigen, Präsident Schweizerische Adipositas-Stiftung SAPS
Und so schreiben die Wissenschaftler der University of California am Schluss ihrer Untersuchung: «Die Gesundheitspolitiker sollten die ungewollten Folgen in Betracht ziehen, die entstehen, wenn man sich ausschliesslich auf den BMI verlässt; und die Forscher sollten versuchen, die diagnostischen Werkzeuge zu verbessern, die mit dem Gewicht und der kardiometablischen Gesundheit zusammenhängen.» 
Studienleiterin Tomiyama sagte es in der «Los Angeles Times» noch konkreter: Der BMI sei als Indikator so beliebt, weil er so simpel ist. «Aber eine Blutdruckmessung ist auch ziemlich einfach. Es braucht etwa 20 Sekunden, und man hat die Geräte dazu. Und so denke ich wirklich, dass wir uns auf bessere Gesundheitsmesser wie den Blutdruck konzentrieren sollten.»
Original-Studie: A J Tomiyama, J M Hunger, J Nguyen-Cuu, C Wells: «Misclassification of cardiometabolic health when using body mass index categories in NHANES 2005–2012», in: «International Journal of Obesity», Februar 2016.



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